Wie Apple die schwäbische Kunst der Verknappung lernte

In Baden-Württemberg hat ein Softwarefehler dem Kultusministerium fast 20 Jahre lang knapp 1.500 Lehrerstellen als besetzt gemeldet, obwohl sie frei waren. Aufgefallen ist das aber keinem. Eine Digitalisierungs-Idee, die Schule machen könnte?

Nicht nur beim Schulforschungspreis sorgt das Kultusministerium Baden-Württemberg für "Nanu" -Momente (Foto: Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg)

Lars, but not Least

Der Fachkräftemangel im Schulwesen hat beinahe schon Dimensionen erreicht, wie im IT-Sektor. Dementsprechend werben die Kultusministerien ähnlich dringend und drängend um die jeweils begehrten Fachkräfte. Während in der Wirtschaft etwa Studenten mit Einstiegsmöglichkeiten umgarnt und Security-Spezialisten abgeworben werden, öffnen sich die Schulen für Seiten- und Quereinsteiger und die Länder luchsen sich gegenseitig mit Versprechen wie besserer Besoldung und leichterer Verbeamtung das knappe Personal ab. Bisher ist es aber sowohl der Wirtschaft als auch der Verwaltung nur mäßig geglückt, mit solchen Methoden eine ausreichend große Attraktivität zu entwickeln, die genügend Nachwuchs anlockt.

Umso mehr lohnt sich ein Blick auf Baden-Württemberg, das hier als einziges ausgeschert ist und einen völlig anderen Ansatz gemäß dem Motto "weniger ist mehr" entwickelt hat. Der scheint einmal mehr das Klischee des sparsamen, gelegentlich mit Wonne und stoischer Ruhe gegen den Strom schwimmenden, aber auch tüftlerisch erfindungsreichen und innovativen Landes, zu bestätigen.

Schon 2005, als die Nachbarn sich noch im sicheren Bildungsolymp wähnten, hatten clevere Köpfe in Baden-Württemberg offenbar im Geheimen die unter Kultus-Mathematikern als unlösbar geltende Formel aus Altersstruktur der Lehrerschaft, nachkommenden Lehrern und Kindern geknackt und sofort Maßnahmen gegen die drohende Versorgungslücke eingeleitet. Maßnahmen, die manche Entwicklung vorweggenommen haben und von denen selbst Apple lernen kann.

Lehrreiche Leerstellen-Arithmetik

Selbstredend setzte das Heimatland von SAP schon damals alles auf die Digitalisierungs-Karte. Als Lösung zur Lösung des künftigen Lehrerproblems, und noch einiger anderer Herausforderungen der Verwaltung, wurde "DIPSY-Lehrer" ersonnen. Ein freundlich klingender Name, der phonetisch im Englischen zwar zunächst nach angetrunkenen (tipsy) Lehrern klingt, aber im Amtsdeutsch eigentlich für "Dialogisiertes integriertes Personalverwaltungssystem" steht. Auf der in einigen Belangen selbst für heutige Verwaltungsverhältnisse fortschrittlichen Plattform können sowohl die individuellen Personaldaten der Lehrer gepflegt als auch die Stellenverwaltung abgewickelt werden.

Der besondere Clou jedoch ist ein anderer: Fast wie ein Computerspiel kann die Software Lehrer spawnen (digital erscheinen lassen) und mit ihnen freie Lehrerstellen als besetzt verbuchen, ohne dass dafür ein menschlicher Lehrer eingestellt oder weitere Verwaltungsvorgänge ausgelöst werden müssten.

Das war und ist in mehrfacher Hinsicht revolutionär:

Dennoch nahm die Geschichte kein allzu gutes Ende. Ausgerechnet jetzt, kurz vor den heißersehnten Sommerferien, bekommen die virtuellen Kollegen plötzlich disziplinarische Probleme. Offenbar muss einem besonders eifrigen Prüfer aufgefallen sein, dass die seit Jahren praktizierte Erzeugung von Pädagogen-Avataren ohne das schriftliche Einverständnis ihrer Eltern gegen die aktuellen Datenschutzvorschriften im Schulwesen verstößt, oder ähnliches.

"Nachdem es in Einzelfällen zu Unstimmigkeiten gekommen war, haben Kultusverwaltung und das Landesamt für Besoldung die IST-Besetzung der Stellen erstmals komplett neu ermittelt. Hierzu wurde im Juni 2025 dafür eigens ein neu entwickeltes Programm eingesetzt. Die Neuberechnung ergab 1.440 freie Stellen, die bis dato unbesetzt waren", so die offizielle Mitteilung. Es musste also erst eine Spezialsoftware entwickelt werden, um festzustellen, dass mit der bisher anstandslos akzeptierten Zählung der DAISY-Plattform etwas nicht stimmen kann. Doch auch damit ist das Kultusministerium mit seinen guten Ideen noch lange nicht am Ende.

Im Ministerium sollen nun Arbeitsgruppen ermitteln, wie der Fehler passieren konnte und woher echte Lehrer für die Stellen genommen werden könnten. Die Ergebnisse sind wohl in etwa 20 Jahren zu erwarten. (Foto: Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg)

1.440 auf einen Streich: Tausche Avatare gegen Lehrer

Infolgedessen muss DIPSY ihre gesamte virtuelle Lehrerschaft nun auf einen Schlag in die digitale Rente, genauer gesagt natürlich Pension, schicken, während die Verwaltung gleichzeitig in einer unglaublichen Volte versucht, ihrem einstigen Software-Star die Verantwortung in die Schuhe zu schieben. In der Pressemitteilung heißt es dazu: "Derzeit ist davon auszugehen, dass bereits bei der Datenübertragung 2005 ein Fehler passiert sein muss."

Doch warum ist weder damals noch in den 20 Jahren danach jemals einem Menschen aufgefallen, dass nach der Systemumstellung plötzlich einige hundert Lehrer mehr in den Datensätzen standen? Immerhin könnte nicht nur deren virtuelle Existenz an sich Fragen aufwerfen, sondern spätestens bei ganz normalen Vorgängen wie Beurteilungen, Beförderungen oder Mitteilungen auffallen, dass mit der verbuchten Lehrkraft etwas nicht stimmt.

Doch ganz im Gegenteil: Selbst als die Lehrer irgendwann damit begannen sich zu vermehren, wurden sie weiterhin ignoriert. "Weitere Faktoren, wie die Umstellung auf den TV-L, die Einführung der Entgeltordnung für Lehrkräfte sowie manuelle Nachbearbeitungen durch die Kultusverwaltung haben mutmaßlich zu einem Anwachsen der fehlerhaften IST-Zahlen geführt. Seitdem wurden Jahr für Jahr Stellen als besetzt im Programm geführt, obwohl sie frei waren." Zumindest mutmaßlich war aber möglicherweise auch ein klein wenig der Faktor Mensch beteiligt. "Hinzu kommen mutmaßlich Programmierungsfehler durch das LBV und manuelle Nachbearbeitungen durch die Kultusverwaltung." In Abwandlung des bekannten Marketingclaims könnte man also spöttisch zusammenfassen: "Wir können alles. Außer Digitalisierung".

Aus Fehlern wird man klug – wer braucht da noch Lehrer?

Für die Verantwortlichen wird diese Entdeckung, die aus den Lehrern wieder Leere macht, nun doppelt zum Problem. Die Politik will ihre Bildungs-Erfolgsbilanz hinsichtlich der vorhandenen Lehrkräfte nicht allzu weit nach unten korrigieren und versucht das Malheur deshalb in eine Chance umzudeuten, indem sie die Leerstellen nun in echte Lehrstellen umwandelt. "Das Kultusministerium wird nun schnellstmöglich einen Plan erstellen, wie die Stellen effektiv an den Schulen eingebracht werden können. Sämtliche Stellen sollen der Unterrichtsversorgung zugutekommen." Angesichts dieser Ankündigung schauen die anderen Länder sicherlich jetzt schon gespannt zu, mit welch genialem Plan sich diesmal 1.440 Lehrer aus dem Hut zaubern lassen.

Immerhin: Dass ähnliche Fehler erneut passieren, darf als äußerst unwahrscheinlich gelten. Denn um diese zu vermeiden, kommt eines der schärfsten Schwerter der Verwaltung zum Einsatz – eine Arbeitsgruppe: "Um einen solchen Fehler künftig zu vermeiden, haben Kultusministerium und Finanzministerium eine Arbeitsgruppe gebildet, die auch den Rechnungshof einbeziehen wird. Sie soll die Ursachen des Problems identifizieren und beseitigen."

Wie KI Lehrer und Kollegen produktiver macht

Was also können Unternehmen nun aus diesem Desaster lernen? Die schlechte Nachricht ist, dass die Verknappung von Arbeitsplätzen bei Fachkräftemangel hinsichtlich ihrer Attraktivität offenbar anderen Gesetzen folgt, als die Verknappung von iPhones bei Apple. Es bleibt also bei redlichen Bemühungen, um die besten Fachleute anzulocken und zu halten.

Die gute Nachricht jedoch ist, dass sich digitale Tools eignen, um Stellen einzusparen und dennoch gleichzeitig die Mitarbeiter zu motivieren; indem ihnen erfolgreich vorgegaukelt wird, die Arbeitslast sei auf mehr Schultern verteilt, als tatsächlich vorhanden sind. Immerhin haben die rund 95.000 realen Lehrer die Arbeit ihrer digitalen Kollegen trotz mancher geflissentlich als Jammern auf hohem Niveau ignorierten Beschwerde durchwegs mit erledigt und die mehr als eine Million Kinder im Land beschult. Ihre Produktivität wurde also durch die vermeintlich fehlerhafte Software also erhöht.

Ein Erfolgsmodell, das auch CEOs interessieren dürfte, die ähnliche Strategien bisher umständlich mit analogen Mitteln wie Drohungen und Kündigungen umsetzen mussten. Diese Art der Führung wird durch den Einsatz von KI künftig deutlich einfacher und zugleich effizienter, indem sie Fake-Kollegen erzeugt, die sogar ans Telefon gehen und ihre Emails beantworten, und dabei mit individuell angepasstem maximalem Nachdruck weitere Aufgaben an ihre wenigen verbliebenen menschlichen Kollegen herantragen.

Ob nun im übertragenen oder wörtlichen Sinne bleibt somit letztlich nur zu hoffen, dass der schwäbische Weg der Digitalisierung im Bildungswesen nicht Schule macht.

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