Wenn Kunden die KI anschreien
Neben technischen Hürden wie fehlender Kompatibilität und Bedenken hinsichtlich der Datensicherheit sollten sich Dienstleister bei der Umsetzung dialogorientierter KI auch einiger Besonderheiten und Missverständnisse gewahr sein. Während Unternehmen etwa dazu neigen, ihre Lösungen zu überschätzen, ist es bei den Nutzern genau andersherum.
Wenn sich Unternehmen im Zuge des aktuellen KI-Hypes nach passenden Einsatzgebieten und Lösungen umschauen, um schnelle Effizienzgewinne zu erzielen, landen sie oft im Servicebereich. Hier kann "Conversational AI", also dialogorientierte KI, viele einfache aber zeitintensive Serviceaufgaben in Echtzeit übernehmen und den Austausch mit den Kunden verbessern. Es gibt bereits zahlreiche weit entwickelte Lösungen für entsprechende Aufgaben, die meist schnell und ohne allzu große Anpassungen zu implementieren sind, vergleichsweise wenig Kosten verursachen und zugleich schnelle Ergebnisse versprechen.
Genauere Einblicke, wie groß die Verbreitung und Nachfrage sind, was sich Unternehmen davon erhoffen und welche Hindernisse es bei der Umsetzung gibt, liefert Dienstleistern jetzt die globale Studie "Inside the Conversational AI Revolution: How to Win the Race to Deliver Exceptional Experiences" des Customer-Engagement-Anbieters Twilio. Für sie wurden mehr als 4.800 Nutzer und 457 Führungskräfte aus 15 Ländern, darunter Großbritannien, Frankreich und Deutschland, befragt. Dadurch kann die Studie auch einige eigene Ergebnisse und interessante Vergleiche für den EMEA-Raum liefern.
Schnelle KI-Evolution vs. Langfristige Investitionen
So gaben in diesem Gebiet 60 Prozent der Unternehmensvertreter an, bereits eine dialogorientierte KI zu betreiben, oder zumindest bereits in der Endphase der Entwicklung zu sein. Damit liegt der hiesige Wirtschaftsraum zwar leicht hinter dem weltweiten Durchschnitt von 66 Prozent. Doch die Entwickler und Betreiber der KI-Lösungen setzen alles dran, das aufzuholen. Während Firmen im globalen Durchschnitt 36 Spezialisten für die Entwicklung und Wartung ihrer KI-Lösungen einsetzen, sind es im EMEA-Raum 49. "Das Engagement für dialogorientierte KI in der EMEA-Region ist beeindruckend – wir sehen erhebliche Investitionen in Budget, Personal und Ressourcen", fasst Peter Bell, VP of Marketing, EMEA bei Twilio zusammen.
Dieser hohe Personaleinsatz deutet darauf hin, dass trotz der schnellen Innovationszyklen und des Drucks aus dem Markt eher langfristige Lösungen gesucht und erarbeitet werden. 54 Prozent der Unternehmensvertreter bestätigen, dass sie davon ausgehen, dass die aktuelle Lösung über ein Jahr lang bestehen bleibt. Genau umgekehrt ist es international, wo 59 Prozent der Unternehmen davon ausgehen, ihre Lösung innerhalb eines Jahres auszutauschen. Gleichzeitig beschweren sich dort 80 Prozent der Geschäftsverantwortlichen über zu hohe Kosten, um mit der rapiden Evolution der KI-Modelle Schritt zu halten. Diese Unsicherheit spiegelt sich auch darin wider, dass 99 Prozent der Organisationen davon ausgehen, dass ihre Strategie für Conversational AI noch innerhalb der nächsten 12 Monate angepasst wird.
Zudem sind die Fachkräfte auch deshalb nötig, weil es zumeist nicht bei einer Lösung bleibt. 88 Prozent der Führungskräfte geben an, dass mehrere KI-Systeme gleichzeitig eingesetzt werden. Mit diesem oft bewusst gewählten multimodalen Ansatz wollen sie Innovation, Flexibilität und Vertrauen in Einklang bringen. "Mit zunehmender Reife der KI besteht die Herausforderung für Führungskräfte darin, kompromisslos agil zu bleiben", konstatiert Bell und empfiehlt "sicherzustellen, dass ihre Systeme mit den Kundenbedürfnissen Schritt halten, während sie gleichzeitig Transparenz priorisieren und dauerhaftes Vertrauen aufbauen".
Dienstleister gefragt
Punkte, die somit auch KI-Dienstleister unbedingt auf dem Schirm haben sollten. Genauso wie die Themen Kompatibilität, Sicherheit und Datenschutz, die gerade in Europa eine besonders große Rolle spielen. Denn die Unternehmen in EMEA haben der Befragung zufolge fast doppelt so oft mit Schwierigkeiten hinsichtlich der Kompatibilität ihrer Infrastruktur mit den KI-Lösungen zu kämpfen wie ihre Pendants in den USA und der APAC-Region. Dementsprechend häufig erzeugen KI-Projekte hier zugleich einen Modernisierungsbedarf.
Ähnlich groß ist der Unterschied beim Vertrauen in Datenqualität, Datensicherheit und Datenschutz. So vertrauen im EMEA-Gebiet nur 42 Prozent den von ihnen verwendeten KI-Modellen vollständig. Fast die Hälfte setzt für die Personalisierung sicherheitshalber eher auf Geräte- oder Standortdaten. Deshalb müssen Dienstleister im Sinne ihrer Rolle als Trusted Advisor belastbare Antworten auf solche Fragen haben, die gezielt die Sorgen der Kunden und auch der Endnutzer ansprechen und so ihr Vertrauen festigen.
Servicequalität und Kundenbindung als oberste Ziele
Genutzt werden die digitalen Servicekräfte für eine breite Anwendungspalette, die häufigsten sind technische Dokumentationen und FAQs (59 Prozent) sowie als chattende Unterstützung auf Websites (54 Prozent). Auf ihre Social-Media-Kanäle lassen die Unternehmen sie hingegen nur vergleichsweise selten los, wohl aus Angst, dass Fehler dort besonders viel negative Aufmerksamkeit erregen könnten. Immerhin nennen mit 58 Prozent die meisten Firmen die Markeninnovation als eines ihrer wichtigsten Ziele beim Einsatz dialogorientierter KI. 52 Prozent wollen damit zudem die Effizienz der Mitarbeiter verbessern, 48 Prozent die Kundenbindung optimieren.
Die Außenwirkung und Interaktion mit den Kunden ist den Unternehmen in diesem kommunikativen KI-Einsatzbereich also in Summe sogar wichtiger als die Prozessoptimierung und Produktivitätssteigerung. Oberstes Ziel ist es für viele, ihre Servicequalität zu verbessern. Das zeigt sich auch an den zur Bestimmung des ROI herangezogenen Faktoren. 51 Prozent der befragten Unternehmen legen den Schwerpunkt hier ganz pragmatisch auf das Beschwerdemanagement, 42 Prozent auf die Kundenbindung. Zu wenig Beachtung findet hier aber oft noch die Bewertung des KI-Erlebnisses selbst. Während 90 Prozent der global befragten Unternehmen davon ausgehen ihre Lösung biete den Kunden eine positiver Nutzererfahrung, teilen das nur 59 Prozent der Nutzer selbst.
Um diese Punkte langfristig erfolgreich abzudecken, gilt es zudem zu beachten, dass die Ansprüche der Nutzer mit der wachsenden Verbreitung entsprechender Lösungen und den dabei gesammelten Erfahrungen immer weiter steigen. "Die Erwartungen der Kunden entwickeln sich schnell weiter", beobachtet auch Bell. "Dialogorientierte KI gibt Unternehmen die Möglichkeit, diese Erwartungen in großem Umfang zu erfüllen. Der Erfolg hängt jedoch davon ab, dass Innovation und Empathie in Einklang gebracht werden und dass KI-Lösungen flexibel, kontextsensitiv und auf Vertrauen ausgelegt sind."
Nutzer bleiben skeptisch – große Unterschiede zwischen den Generationen
Das ist allerdings alles andere als trivial, was nicht zuletzt einer übermäßigen Skepsis der Nutzer geschuldet ist. Für die sind KI-Agenten zwar inzwischen Alltag, nachdem 85 Prozent (global) berichten, innerhalb der letzten drei Monate mindestens einen Kontakt mit einer entsprechenden KI gehabt zu haben. Dennoch bleiben sie äußerst vorsichtig und skeptisch. 66 Prozent von ihnen wollen nicht, dass eine KI Zugriff auf ihre volle Interaktionshistorie mit dem Unternehmen hat, 51 Prozent fühlen sich nicht wohl dabei, persönliche Daten oder Finanzinformationen mit der KI zu teilen.
Dieser eher ablehnenden Haltung entsprechend geht die große Mehrheit der Verbraucher (75 Prozent bei textbasierten Interaktionen und 72 Prozent bei sprachbasierten Interaktionen) davon aus, einen KI-Agenten sofort erkennen zu können. Tatsächlich jedoch konnten in entsprechenden Tests 90 Prozent der Verbraucher KI-generierte Sprachclips nicht korrekt als solche identifizieren.
Interessanterweise zeigt sich hier auch ein gravierender Unterschied zwischen verschiedenen Altersstufen. In der Praxis sind die etwas älteren Generationen doppelt so gut darin, KI-generierte Inhalte zu erkennen, wie die digital Natives der aktuellen Generationen. Gleichzeitig geben die Generation X und die Baby Boomer mit 53 und 46 Prozent auch die niedrigsten Zufriedenheitswerte mit ihren KI-Interaktionen an. Sie sprechen deshalb weiterhin lieber mit menschlichen Servicekräften und sind skeptischer gegenüber Unternehmen, die ihnen KI-Agenten vorsetzen. Deutlich besser kommt die Gen Z mit den Agenten klar, sie braucht nur in weniger als einem Drittel der Service-Fälle nach der Interaktion mit der KI noch weitere Hilfe von einem menschlichen Mitarbeiter. Dennoch haben gerade die jungen Generationen die größeren Bedenken hinsichtlich des Datenschutzes. 70 Prozent von ihnen fühlen sich unwohl, ihre Daten bei einer KI zu wissen.
KI allein reicht nicht: Der Faktor Mensch
Um den ROI zu messen, legen die meisten EMEA-Unternehmen den Schwerpunkt auf das Beschwerdemanagement (51 Prozent) und die Kundenbindung (42 Prozent), was einen pragmatischen Ansatz hinsichtlich des Nutzens von KI für die Verbesserung der Servicequalität widerspiegelt.
Zugleich erwarten sie sich natürlich Einsparungen, gehen aber auch hier oft mit etwas zu optimistischen Erwartungen zu Werke. 83 Prozent der Unternehmensverantwortlichen zeigen sich überzeugt, dass KI menschliche Agenten ersetzen kann. Auf Seiten der Konsumenten ist es aber 78 Prozent wichtig, bei Bedarf von der KI zu einer menschlichen Servicekraft wechseln zu können. Ein Punkt, an dem es zudem noch weiteren Verbesserungsbedarf gibt. Denn nur 15 Prozent der Nutzer beschreiben die Übergabe zwischen Maschine und Mensch nach ihrer bisherigen Erfahrung als reibungslos.
Grundsätzlich geben 69 Prozent der Befragten an, lieber mit einem Menschen als mit einer KI zu interagieren. Und das, obwohl fast genauso viele (63 Prozent) der Meinung sind, dass KI-Agenten schneller antworten. Überhaupt ist Geschwindigkeit ein wichtiger Hebel in der Argumentation gegenüber den Nutzern. Denn wenn ihr Anliegen dadurch schneller erledigt wird, würden 72 Prozent auf einmal doch dem KI-Agenten den Vorzug geben.
Zum Schluss zeigt die Studie außerdem auf, dass es weder die echten noch die KI-Agenten nicht immer leicht mit ihren menschlichen Gesprächspartnern haben. 33 Prozent der Befragten geben zu, den Service schon mit Schreien und Beschimpfungen überzogen zu haben. Dabei richten sich solche Ausfälligkeiten ebenso häufig gegen menschliche Mitarbeiter (19 Prozent) wie gegen KI (20 Prozent).
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